Isabel Ritter: Geschlossene Form

Isabell Ritter: Geschlossene Form

Isabel Ritter: Geschlossene Form (48x12x29 cm), Lindenholz, Acrylfarbe, 2016

Eine Figur schreitet. Sie markiert den Raum um sich herum, sie nimmt Raum ein. Ein Gewand umhüllt sie, das ihr eng anliegt. Es lässt den Beinen und Füssen den Spielraum für ein normales Schrittmass. Eilen oder Laufen hingegen scheint der Figur nicht möglich. Das Gewand reicht ihr wortwörtlich „vom Scheitel bis zur Sohle“. Es umhüllt sie nicht nur, es verhüllt auch ihre Gestalt und umschliesst Büste und Kopf so, dass nur ihr Gesicht und der Ansatz ihrer Haare frei bleiben. Während sich die Beine unter dem scheinbar eng anliegenden Gewand deutlich abzeichnen, sind die Arme unsichtbar.

Die Geschichte der Plastik kennt berühmte Beispiele, wie Rodins L’homme qui marche (Schreitender), der für Rainer Maria Rilke in seiner Rodin-Studie (1902) zum Prototyp einer Geschichte der Gebärde wird, einer künstlerischen Entdeckungsreise. Aufgabe der Kunst, so Rilke, sei es nicht, eine sachliche Vollständigkeit zu dokumentieren. Sie folge nicht der „kleinlichen Pedanterie, welche sagt, dass zum Körper Arme gehören“. Vielmehr zeige die Ganzheit einer Skulptur sich in der „Notwendigkeit“ der Komposition, welche man letztendlich als Schlüssigkeit des skulpturalen Konzepts verstehen kann.

Ritter zeigt, anders als Rodin, keinen nackten Torso, sondern eine weibliche Figur: da deren Konturen unter der Umhüllung verborgen bleiben, liest der Betrachter das Geschlecht aus den Gesichtszügen und der knapp angedeuteten Haartracht. Ritters Arbeit trägt denn auch den Titel „Geschlossene Form“. Zwischen der Kompaktheit der Hülle und der ausgeführten Gebärde des Schreitens indes besteht ein energetischer Gegensatz, ebenso wie zwischen der Umhüllung der Figur und dem ruhigen Willensausdruck, der von ihrem Gesicht ausgeht. Die Umhüllung ist aus einem Block (Lindenholz) mit wenigen groben Schnitzbewegungen ausgeführt, die Oberfläche ist unbehandelt. So wird die Kompaktheit unterstrichen. Hingegen ist das Gesicht fein gearbeitet und geglättet, es zeigt sich unverhüllt, mit einer zwar dezenten, aber farbigen Fassung, die dunklen Pupillen mit dem traditionellen Weisspunkt vitalisiert. Durch diese Fassung (Bemalung) wird der Gebärde des Schreitens ein weiteres energetisches Moment hinzugefügt: Ein Blick, der dem Weg, den die Figur vor sich hat, vorausweist.

Die Blickhaltung bezeugt, dass die Figur ihren Weg kennt. Sie schreitet zielstrebig. Sie weiss, wohin sie will und was sie am Ende ihres Weges erwartet. Diese Haltung verleiht ihr eine selbstverständliche Entschlossenheit. Sie muss weder gegenüber Dritten auftrumpfen, noch sich von jemand abgrenzen. So schaut die Figur auch frontal nicht den Betrachter an, sondern an ihm vorbei. Die geschlossene Form ist zu lesen als Ausdruck der Beharrlichkeit; die Ruhe des Ausdrucks ist von Zaudern frei, untertützt von der leichten Neigung der Figur nach vorne, in Laufrichtung. Mit jedem Schritt verschiebt sie die Statik der Balance hin auf den nächsten Schritt, voran.

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